
Rolle rückwärts beim Grundschul-Verband: Legasthenie ist keine Krankheit!
Es ist eine klammheimliche Sensation: Der Grundschulverband gibt offiziell das störungsorientierte Legasthenie-Konzept auf! Die neue Auffassung heißt:
„Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten sind ein didaktisches, kein medizinisches Problem“.
Das ist ja genau, was viele Fachleute und auch ich seit Jahrzehnten unermüdlich wiederholen. Eigentlich wäre hier das Wort „Paradigmenwechsel“ angemessen! Schließlich hat der Verband der Sache nach Recht: Es gibt nach wie vor keine guten Gründe, Legasthenie als Krankheit zu betrachten. Nach vorangehenden kritischen Erörterungen des Themas hier und hier folgte die genannte Stellungnahme des Grundschulverbands relativ still und leise im aktuellen Band 140 der Reihe „Beiträge zur Reform der Grundschule“ auf S. 212-214. Dort heißt es:
„Es gibt zu viele Menschen, die nicht gut genug lesen und schreiben können… Problematisch ist aber der Begriff der „Störung“. Mit ihm unterstellt die Leitlinie qualitative Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen im unteren Leistungsbereich, obwohl die Leistungen ein Kontinuum darstellen und sich nur graduell unterscheiden… Es ist deshalb Aufgabe von Elternhaus und Schule, Kindern die bestmöglichen Lernbedingungen zu schaffen. … Aus grundschulpädagogischer Sicht fordern wir (…) dialogische Formen der Lernbeobachtungen, in denen Testergebnisse eine dienende und keine dominante Funktion haben. Auch angesichts von Unterschieden, die schon am Schulanfang drei Jahre betragen, sind punktuelle, an Gruppennormen orienterte „Status-Diagnosen“ nicht hilfreich. Die individuellen Entwicklungen und Schwierigkeiten sind über lernbegleitende Beobachtungen zu erfassen …. [es] wird vor allem die hohe Bedeutung der individuellen Lehrerkompetenz für die kind- und problemgerechte Nutzung von Methoden verkannt. Diese erfordert eine Erweiterung des didaktisch-methodischen Repertoires der Lehrpersonen. … Die Lese- und Schreibdidaktik muss aber auch in der Aus- und Fortbildung von Lehrer/inne/n mehr Gewicht bekommen.“
(ebd.; Hervorhebungen von mir)
Aber ob das so bald in der Praxis durchdringen wird? Die Pädagogen haben sich in den letzten Jahrzehnten allzu leicht das Heft aus der Hand nehmen lassen und ihre Möglichkeiten, pädagogisch einzugreifen, nicht genutzt. Stattdessen waren sie damit beschäftigt, sensualistische Irrwege zu beschreiten oder sich selbst abzuschaffen, um dem Verdacht der Defizitorientierung zu entgehen. Einsicht in den didaktogenen Charakter von Lese-Rechtschreib-Problemen besteht in weiten Teilen der Lehrerschaft bis heute nicht.
Eine Fehleranalyse ist das A und O für gezielte Förderung. Sie wird in wenigen Jahren auch digital gestützt in solider Form verfügbar sein. Viele Privatschulen setzen sie jetzt schon ein, um jedem Schüler zu ermöglichen, individuell passende Übungen zu erhalten und an den persönlichen Fehlerschwerpunkten zu arbeiten. Auch mein Material Fehlerhelden dient genau diesem Zweck. Legasthenie ist kein Schicksal. Helfen wir Kindern, das Beste aus sich herauszuholen!